SHADOWRUN | Berlin – Retroschock
Topic: 'SR-articles'
Berlin 2071. Schwarze Zone Pankow, Konradstraße. Im Hintergrund zu sehen die für die Zone typischen "Produktenschilder", die auf kleine Läden, Produktenlager und Destillen in Hinterhöfen, Kellern und Wohnungen hinweisen.



Willkommen im 19. Jahrhundert

> Das Folgende ist ein älterer Artikel – aus 2056, glaub ich – der den damaligen Stand der Anarchie in Berlin beleuchtet. Er ist nicht mehr hundert Prozent up to date, trifft aber für weite Gebiete im anarchistischen Osten der Stadt (der "Zone") immer noch zu und ist daher denke ich immer noch interessant. Soweit es nötig ist, hab ich einzelne Dinge aktualisiert.
> Konoppke


Fast alle Medien, die sich mit der Anarchie in Berlin beschäftigen,
thematisieren den Rückfall des Lebens auf eine primitivere Stufe. Was hingegen nicht verstanden und nicht dargestellt wird, ist, dass dieser Rückfall zwar durchaus geschehen ist, sich aber inzwischen stabilisiert und vor allem: normalisiert hat.

> Die Info ist wie gesagt noch vor dem zweiten Matrixcrash und der Geburt der schönen neuen Wifi-Welt. Um die Sache zu aktualisieren, sei gesagt, dass die weitgehende Abwesenheit von matrixabhängigen Strukturen die anarchistischen Gebiete Berlins weitgehend heil durch den Crash gebracht hat. Tatsächlich lief das Leben dort so normal weiter, dass man das wahre Ausmaß des Crash gar nicht so wirklich mitbekommen hat (abgesehen von einer großen Plündertour durch die Randsektoren des Konzerngebietes, als bei denen "die Lichter ausgingen"). Neuerdings, wo Wifi einfach mal DAS Thema geworden ist, ist auch in der Zone der "Haben Will" Faktor stärker geworden, und viele vor allem jüngere Leute sind genervt vom statischen Rauschen oder dem völligen Fehlen von Kontakt in manchen Gegenden. Dass es zudem im Osten regelrecht Kieze gibt, die von irgendwelchen revolutionären F-Komitees mit Störsendern förmlich blockiert werden ("Wider das kapitalistische Spam- und Spy-Web!") hat in jüngerer Vergangenheit zu einigen Spannungen geführt. Spannungen, die konzernseitig durchaus geschürt werden, wie man hört.
> Konoppke


Ja, die Berlin-weite Stromversorgung gehört der Vergangenheit an. Mit Strom beliefert werden nur Konzern-kontrollierte Gebiete und einige benachbarte Areale, die zumeist den Strom stehlen.

Was sich der Berlinfremde als moderne Steinzeit vorstellt, hat für die
betroffenen Bezirke aber lediglich folgende Veränderungen gebracht:

Stromversorgung ist Nahversorgung.

Statt sich darauf zu verlassen, dass Strom aus der Steckdose kommt, haben viele Berliner Mietvereine Solarzellen auf dem Dach oder Generatoren im Keller ihrer Häuser installiert. Diese werden gemeinschaftlich genutzt und ebenso bezahlt.

Schluss mit Überfluss.

Solarzellen haben begrenzte Leistung, Treibstoff getriebene Generatoren sind teuer, also versucht jeder, seinen Stromverbrauch zu reduzieren. Neben Niedervoltleuchten sind auch Petroleumlampen und sogar Kerzen wieder „en Vogue" in Berlin, speziell in den Bars und Kneipen.

Die große Verdunkelung.

Die Straßenbeleuchtung in Berlin ist weitestgehend vom Strom abgetrennt, oft sind auch die Lampen kaputt oder sogar gestohlen. Im Ergebnis sind Berliner Nächte in den meisten Bezirken SEHR dunkel, was natürlich gewissem lichtscheuen Gesindel exzellent in den Kram passt.

Gas, Wasser, Scheiße

Die gleichen Grundprobleme treffen Gas- und Wasserversorgung, und wiederum haben sich hier neue Strukturen entwickelt, um dem Problem zu begegnen. So gibt es heute wieder klassische Wäschereien (oft mit Handwäsche, da menschliche Arbeitskraft billiger als Hi-Tech und Strom ist), geheizt wird wieder verstärkt mit Briketts (und eben leider auch Holz, was bereits viele Berliner Bäume das Leben gekostet hat) und für die Wasserversorgung werden öffentliche Handpumpen, zuweilen hauseigene Motorpumpen und - wenn man es sich leisten kann - Wasser aus Flaschen bzw. Kanistern benutzt.

Ein größeres Problem in Berlin stellt hingegen die Abfallbeseitigung und die zunehmende Verseuchung des Wassers durch Schäden in den Abwasserleitungen und „Straßenentsorgung" von Kloakenabfällen dar. Berlin hat die höchste Cholera-Neuinfektionsrate von allen Städten in Europa (inklusive Venedig!), und die Sterblichkeit von Kleinkindern hat längst bedrohliche Ausmaße erreicht.

So traurig es ist, das festzustellen: Der Wegfall der Gesetze mag zwar aus dem Normalberliner keinen Serienkiller machen, aber nur zu leicht bewegt es ihn dazu, nachts Müll im Nachbarblock abzuladen, das ausgediente Sofa einfach vor die Wohnungstür zu schieben oder den kaputten Kühlschrank gefüllt mit Plastiksächen voll Hygieneabfällen auf die Straße vorm Haus zu werfen.

Natürlich gibt es Unternehmen, welche den Abtransport der Abfälle
anbieten: Aber erstens weigern sich viele Berliner beharrlich, für Müll vor der Haustür zu bezahlen, den Leute aus einem anderen Block dort abgeworfen haben, und zweitens arbeiten jene Abfallfuhren auch nach dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit. Und das bedeutet, dass sie allzu oft die gesammelten Abfälle nur ein paar Straßen weiter wieder abkippen oder - was fast noch schlimmer ist - sie werfen sie in Spree, Havel oder Panke. Was immer mit ihnen geschieht: Den Weg zu den Deponien finden sie in den seltensten Fällen.

Rücksichtslosigkeit und Gedankenlosigkeit sind die beiden kritischsten Faktoren im Berliner Leben unter dem Status F. Überall, wo er in der einen oder anderen Form noch gilt.

> Wie gesagt: Was der Artikel hier über "Das Berliner Leben" schreibt, meint vor allem die Zone. Und das umso mehr, je tiefer man in die Zone hineinfährt. Im Kern kann man die Berliner Bezirke in folgende Klassen unterteilen: Konzernsektoren, Freizonen, Pendlerzonen, Randzonen und Schwarze Zone. Aber dazu an anderer Stelle mehr.
> Konoppke