Montag, 27. August 2007
CYB3RPUNK | 2035+
Topic: 'CP-articles'
Leben und sterben in 2035+
2035 ist eine Zeit des abklingenden Chaos. Nach einer Ära des Wandels und der damit einhergehenden Angst, ist das Bedürfnis nach Ruhe, Ordnung und Führung zum wichtigsten Aspekt öffentlichen Denkens und Handelns geworden. Nachdem die demokratische Ordnung sich als unfähig erwiesen hat, die Bevölkerung vor Technoschock, Carbonseuche, Konzernkrieg, Cyber-Irren und Gang-Gewalt zu schützen, hat die Bevölkerung die Umkehr des amerikanischen Rechtssystems und der Weltordnung weitgehend willens über sich ergehen lassen. Der Wandel der letzten Jahre hat dabei einige Phänomene und neue Klassen hervorgebracht, die hier kurz erläutert werden sollen.■ Feeling. Nach einer Ära des Wandels und der damit einhergehenden Angst, ist das Bedürfnis nach Ruhe, Ordnung und Führung zum wichtigsten Aspekt öffentlichen Denkens und Handelns geworden. Nachdem die demokratische Ordnung sich als unfähig erwiesen hat, die Bevölkerung vor Technoschock, Carbonseuche, Konzernkrieg, Cyber-Irren und Gang-Gewalt zu schützen, hat die Bevölkerung die Umkehr des amerikanischen Rechtssystems und der Weltordnung weitgehend willens über sich ergehen lassen.
■ Highrider. Das sind die erwachsen gewordenen Kinder jener Arbeiter, die – meist zu Hungerlöhnen und unter katastrophalen Bedingungen – im sklavischen Dienst für Erdregierungen und -konzerne jene Orbital- und Offworld-Kolonien schufen, von denen die Weltwirtschaft heute zu großen Teilen abhängig ist. Gewiss wäre es den Highridern unmöglich gewesen, die Unabhängigkeit des Orbits und der Kolonien zu erstreiten, hätten sie dabei nicht Hilfe von Groundside gehabt. Und zwar von denjenigen neuen Megakons, die in der Schaffung eines von jeder Erdregierung freien „über-globalen“ Handelsraumes enorm zu profitieren hofften.
■ Angelion. Kern der Highrider-Revolte waren jene Unternehmen, deren Hauptwirtschaftszweck die Errichtung und der Betrieb orbitaler Installationen ist. Und die demzufolge natürlich auch hauptsächlich Highrider beschäftigen. Aus den Absprachen der Highrider-Konzerner solcher Unternehmen wie Orbital Air, aber auch staatlicher Akteure wie der European Space Agency (ESA) entstand der erste konzernübergreifende Interessen-Verband im neuen, orbitalen Wirtschaftsraum: Die Celestial IG. Hatte diese im Steinbrockenkrieg noch sowohl zivile als auch militärische Aufgaben zur Befreiung des Orbits zu bewerkstelligen, hat sie sich inzwischen zur Angelion IG umfirmiert und damit die PR-mäßig sprichwörtliche weiße Weste angezogen. Heute ist Angelion der zentrale orbitale Dienstleister, der den anderen Orbitalen IGs das ungehinderte Wirtschaften ermöglicht.
■ Orbitals. Gut die Hälfte der Industrien und Wirtschaftsbereiche sind heute in IGs organisiert. Das ist an sich nichts besonders Neues, hat aber eine neue Qualität bekommen: Während früher Megakons desselben Wirtschaftssektors meist die schärfsten Konkurrenten waren und lediglich Repräsentanten in einer gemeinsamen Lobby unterhielten, haben die neuen Megakons ihre Interessen miteinander verbunden und damit letztlich den Prozess der Zentralisierung und Ballung von Macht fortgesetzt: Ebenso, wie in den 1990ern aus einzelnen Großunternehmen Megakonzerne wurden, haben sich nun mehrere Megakonzerne zu IGs als neuer wirtschaftlicher „Supermacht“ zusammengeschlossen. Vereint zu einer einzigen Stimme, die de facto ihren jeweiligen Wirtschaftsbereich vollständig dominiert, haben die Megakons (bzw. deren IGs) einen Hebel entwickelt, weltweit jede Regierung nach Belieben zum Einlenken zu bewegen oder sie hinwegzufegen.
Name -- Wichtigste Branche(n) -- Namhafte Mitglieder (Auswahl)
Angelion -- Raumfahrt, Offworld Services -- OA, ESA, Terra Nova, Global Electric, Utopian
Genius -- Pharma, Chemie, Genetik -- Biotechnica, Feizar-Aventis, Norcross, U-Genix
Merkur -- Banken, Versicherungen -- BOC, CréditGroup, EBB, Morgan-Sumitomo
Helios -- Energiewirtschaft, Transport -- Vandersson, Axxom, Global Motors, Xiaoping-Burton
Ares -- Waffen, Militäroperationen -- Kendachi-Carlyle, American Militech, Xian-Su
Avalon -- AgriCorps, Handel -- MallMart, Good Earth Foods (Petrochem), 24seven
Daedalus -- Hardware, Software, Implantate -- Microtech, EBM, iTek, SAB, Seraphim, Raven
Otaku -- Web Services, Medien -- GlobeNet, WNS, Net54, WorldSat, ViVi, Nu!Life
Inanna -- Beratung, Dienstleistungen -- centurial, Infocomp, MacKingsley, MA&F, NLP, TTI
Babylon -- Baubranche, Großprojekte -- Mega Construction Group, Horch+Tiede, Leonardo
Ianus -- Sicherheit, Datenerfassung -- CRSC Central Registry ServCorp, Netwatch, Saburokei
■ Feine Risse. Obgleich von außen nichts auf Schwierigkeiten im neuen IG-Weltsystem hindeutet, gibt es nach wie vor auch Reibungspunkte: Einerseits gibt es weiterhin Firmen, die durchaus nicht bereit sind, ihre Wettbewerbsvorteile „zugunsten des Gesamtwachstums“ aufzugeben. Andererseits ist keine der durch eine IG beherrschte Branche ein in sich geschlossener Marktkosmos: Webdienste brauchen Hardware. Autos brauchen Steuerchips. Banken brauchen Gebäude. Jeder braucht Zulieferer, die er am Liebsten selbst vollständig kontrolliert. Aus diesen komplexen Abhängigkeiten und verborgenen Einflussnahmen entstehen Querverbindungen, die niemand überblickt. Woraus Grauzonen und Krisenherde erwachsen, in denen auch Cyberpunks noch überstehen können.
■ Militech und Arasaka. Diese früheren Giganten des Sicherheitsmarktes demonstrierten wie es deutlicher nicht möglich wäre im Vierten Konzernkrieg, warum moderne Megakonzerne sich einen offenen Konzernkrieg nicht länger leisten können. Unter dem Diktat des wirtschaftlichen Nutzens für alle Beteiligten konnte es zur Bildung größerer Interessenverbände überhaupt keine Alternative geben. Die dummdreiste Art, durch wechselseitige Vernichtung von Firmeneigentum – inklusive Angestellten – letztlich egoistische Ziele der CEOs zu verfolgen, war mit Saburo Arasakas Tod und Lundees Reaktivierung zum General der ISA Streitkräfte ein Relikt der Vergangenheit geworden. Der finanzielle Ruin beider Unternehmensriesen ist ebenso wie die Krater auf den Standorten der Arasaka Türme ein lebendiges Mahnmal geworden. Lediglich Teile der früheren Konzerngiganten leben heute noch fort, wie der Waffenhersteller American Militech, die japanische Arasaka Bank oder der im Bereich Konzernpolizei führende Sicherheitsdienstleister Saburokei.
■ Weltordnung. Trotz Orbitaldominanz: Es gibt weiterhin Nationen, Politiker, staatliche Behörden auf Erden. Und zwar vor allem deshalb, weil die Übernahme der kompletten finanziellen Verantwortung für sämtliche Aspekte einer Nation ein Verlustgeschäft, ein Fass ohne Boden ist. Die IGs bevorzugen es, sich die Rosinen aus dem Kuchen zu picken, beste Lagen für sich und die eigenen Enklaven und KonzernZonen zu reklamieren und die Sorge um jene, die dabei auf der Strecke bleiben, der Politik zu überlassen. Ehe nicht jeder Arbeitslose, Asoziale und Obdachlose einen freien Virtual Vicky oder Nu!Life Zugang hat, bieten Nationalitäten und Nationen auch ein wertvolles Identifizierungsmerkmal. Etwas, was die Massen ruhig und beschäftigt hält. Die Spezies des Politikers ist damit ganz zufrieden. Zwar kann sich keiner jener Staatslenker noch der behaglichen Illusion hingeben, „der mächtigste Mann seiner Nation“ zu sein – aber ein gutes, durch IG-Geld gefülltes Konto und ein späterer Pensionstransfer in ein Orbitalhabitat inklusive Anspruch auf einen Klon als Zweitkörper lassen darüber hinwegsehen.
■ ISA. Als Amerika sich an die Spitze jener Nationen stellte, die sich der Orbitalrevolte entgegenstellten, machte sich der „Weltpolizist“ zum perfekten Ziel für Steinbrocken- und EMP-Beschuss. Trotzdem Nordamerika somit stärker als jede andere Nation vom Steinbrockenkrieg betroffen wurde, haben die Staaten Amerikas insgesamt vom Wandel profitiert. Grund hierfür ist, dass Präsident Windham schon zuvor eine extrem unternehmensfreundliche Verwaltung geschaffen hatte, die nach dem Sieg der IGs flüssig zum Tagesgeschäft übergehen konnte. Europa hatte dem gegenüber in den vergangenen zehn Jahren getragen von der Erstarkung der Europäischen Idee vermehrt auf politische Beschränkung der Megakon-„Heuschrecken“ gesetzt. Und auch heute ist der Unwillen der Bevölkerung, sich dem Diktat des Orbits zu beugen, etwa in Frankreich, Italien und Großbritannien wesentlich stärker als im bereits reichlich „gleichgeschalteten“ Amerika. Auch wenn die ISA de facto Befehlsempfänger der Orbitalen sind wie jede andere Nation auch, hat Präsident Windham somit doch eine positive Entwicklung für Amerika vorführen können. „Wir sind wieder wer!“ ist das beherrschende Gefühl der amerikanischen Patrioten.
■ Zentralregistratur. Eine der ersten Maßnahmen der Himmlischen nach Übernahme der Macht auf Erden war die Schaffung einer zentralen Datei zur Erfassung aller Erdenbürger. Während der offizielle Grund der Einführung jener Zentralregistratur in der effizienteren Bekämpfung moderner Kriminalität und der Zerschlagung des organisierten Verbrechens lag, liegt das Hauptinteresse der Unternehmen allerdings in der Zusammenführung der verschiedensten Datenbanken mit dem Ziel, den „gläsernen Konsumenten“ zu schaffen. Der dahinterstehende Gedanke ist einfach: Ist ein Mensch komplett erfasst hinsichtlich seiner Kapazitäten, Neigungen, seinem finanziellen Hintergrund, seiner Berufsgeschichte, seiner Hobbies, seiner bevorzugten Orte (Online wie Offline) und seiner Routinen, können Unternehmen
1. diesem zielgerichtet jene Werbung zukommen lassen, die ihn auch tatsächlich(!) ansprechen wird
2. gezielt Arbeitnehmer ansprechen, deren Fähigkeiten die Bedürfnisse des Unternehmens abdecken
3. perfekte Verlässlichkeit betreffs Kreditfragen erteilen
4. neue Möglichkeiten zum sozialen Konditionieren schaffen (vergleichbar mit dem Prinzip, Personen positiv, neutral oder negativ zu bewerten und Methoden in Aussicht zu stellen, mehr positive Votes zu generieren und damit Vorteile zu erringen)
5. tatsächlich Verbrecher und Konzernfeindliche (Cyberpunks) schneller identifizieren, sie mit früheren Straftaten in Verbindung zu bringen und effektiver „erledigen“ zu können.
Die Zentralregistratur ist ein gigantischer Datenspeicher, von mehreren AIs gemanaged, der Personendaten (DNA-Samples, Fingerabdrücke, Retina-Prints) und Nutzerprofile (Shopping-Geschichte, Verzeichnis aller je besuchten Webseiten, verwendete Suchbegriffe in Browsern, Kreditgeschichte, abgegebene Stimmen bei Wahlen, ausgefilterte Blog- und Forenbeiträge, private Fotos) poolt und in einzelnen Files (dem sog. „Schatten“ oder „Mirror“) vereint. Das Hauptproblem der ZR ist dabei ihre Offenheit und die für ihre Arbeit notwendige Zugänglichkeit für abertausende Inputquellen weltweit – von denen nicht alle optimal gesichert sind. Aus diesem Grunde werden Veränderungen an Files getagged (ähnlich wie bei wikipedia) und jeder Veränderung ein „Flag“ zugewiesen (sprich: Es wird die Verlässlichkeit der Quelle markiert oder im Idealfall der verändernde Mitarbeiter direkt verlinkt). Außerdem werden Nonstop Backups gezogen (ein kompletter Registry-Durchlauf braucht aktuell etwa 13 Tage) und in einem Orbitalen Datentresor verwahrt. Kommen neue Backups dazu, werden diese von der AI des Tresors abgeglichen und verdächtige Abweichungen den Operatoren gemeldet. Das macht die Arbeit von Schuhmachern nicht gänzlich unmöglich, aber erheblich schwerer (und teurer).
■ Sponsoren. Jeder Mensch hat ein, oft sogar mehrere Files in der Registratur, wobei nicht alle Files bereits miteinander verknüpft sind. Loggt sich jemand etwa unter dem Usernamen „tweety“ ins G3N ein, wird zwar ein File zur ID tweety erstellt und dessen Verhalten als Nutzer-, Konsumenten- und ggf. Täterprofil erfasst, erst aber wenn jemand diesen tweety als „Richard Harris“ identifiziert, werden beide Datensätze zu einem File vereint. Der klassische Cyberpunk versucht, jeder behördlichen Registrierung zu entgehen, hat aber trotzdem in jedem Fall ebenfalls Einträge in der Registratur (und sei es als anhand forensischer Spuren an einem Tatort „gesuchter Täter NC-1544675-F“). Wichtig ist für ihn aber, die Verknüpfung der einzelne Datensätze zum Punk – und hier besonders: seinem Gen-Profil als am Schwersten zu fälschendes Persönlichkeits-Merkmal – zu vermeiden. Zum Leidwesen jedes Punks hat die Nichtexistenz eines geschlossenen und überzeugenden Schattens mit vollständigem Lebenslauf, normalen Gewohnheiten und kreditwürdigem Verhalten einen großen Nachteil: Nämlich, von den Annehmlichkeiten des modernen Lebens ausgeschlossen zu sein. Jedem Schatten wird eine ID-Level zugewiesen, die Auskunft über dessen sozialen Stand und Vertrauenswürdigkeit „auf einen Blick“ gibt. Für präzise diese Glaubwürdigkeit ist die Wahl des Sponsors entscheidend: Eines von Angelion autorisierten Unternehmens oder Verbandes, der sich für die Legitimität des Bürgers quasi „verbürgt“. Ein klassischer Arbeitnehmer muss sich keine Sorgen machen, einen Sponsor aufzutreiben: Das Unternehmen, für das er tätig ist, ist meist automatisch auch sein Sponsor. Von der Größe des Sponsors und dessen Bewertung seines Mitarbeiters hängt dann meist ab, welche Rechte und welcher Kreditrahmen mit der IdentiCard (und der ID selbst) verknüpft sind. Hat jemand das Unglück, keinen Sponsor zu haben – was nicht nur auf Illegale, sondern auch etwa auf Künstler und kleinere Selbständige zutrifft – hat derjenige die Wahl, ein großes, angesehenes Unternehmen dafür zu bezahlen, dass es sich als Sponsor zur Verfügung stellt. Der Sponsor bürgt somit für die Verlässlichkeit des Users und bekommt dafür Geld, durch das er auch etwaige Regressforderungen Dritter bestreitet (eine Art Versicherungssystem). Der Gesponsorte umgekehrt dokumentiert über die regelmäßige Zahlung seines Sponsoring-Beitrages und natürlich dadurch, die Anforderungen des Sponsors erfüllt zu haben, dass er kreditwürdig und verlässlich ist. Eine Win-Win-Situation für Sponsor und Gesponsorten.
■ Konzernzonen. Der hauptsächliche Vorteil einer soliden ID besteht im Zugang zur Konzernzone. Hier stehen die gepflegten, neuen Malls, locken V-Plexe und WellOasen, spenden restaurierte Statuen unter dem Schutz lichter Glasdächer Schatten, laden Straßencafés zum Verweilen ein. Die Konzernzone ist das neue Herz des ganz normalen Lebens. Von ihr ausgeschlossen zu sein, ist mehr als nur eine Einschränkung von Beweglichkeit, die mit langen Umfahrungswegen einhergeht: Es ist ein öffentliches Stigma und der Ausschluss von Kultur, Bildung, Entertainment, Entwicklung. Es gibt öffentliche und geschlossene Konzernzonen: Einige Zonen sind für alle „anständigen“ Bürger, andere für Träger hochwertiger ID-Karten, viele nur für Mieter oder Angestellte mit passender ID zugänglich. Allen Konzernzonen ist gemein, dass diese der Jurisdiktion der Konzernpolizei unterstehen. Und deren Freiheiten gehen zum Teil erheblich über die jeweiligen nationalen Rechtsmöglichkeiten hinaus. Zum Wohle aller, natürlich.
■ Draußen. Die Outside oder Außenzonen beinhalten alles, was nicht Konzernzone ist. Und somit entweder staatlicher oder auch gar keiner Kontrolle untersteht. Anständige Bürger versuchen ihr Möglichstes, den Besuch von Außenzonen zu vermeiden, und suchen diese bestenfalls zum Transfer von A nach B auf. Andere Bürger hingegen schätzen die Außenzonen als Raum für Tätigkeiten, die besser „privat“ bleiben sollen oder sogar den Interessen des eigenen Arbeitgebers entgegen laufen. Außenzonen treten in verschiedenen Formen auf von urbanen Nachbarschaften unter solider Polizeibewachung bis zu gangbeherrschten Höllenlöchern und öden Straßenstrips im Niemandsland zwischen verwaisten Arkologien und geheimen Forschungslaboren tief in der Ödnis des Hinterlandes.
■ Schwarze Zonen. Der Begriff der Schwarzen Zone ist eigentlich ein Relikt der Cyber20ies. Er umfasst jene Gebiete des Draußen, das von der unterfinanzierten Staatspolizei aufgegeben wurde. Und oft schon einen über Jahrzehnte voranschreitenden Verfall in totale Anarchie hinter sich gebracht hat. Ein Prozess, der sich mit Schaffung der Konzernzone weiter beschleunigt hat: Da die Polizei der überwiegend bankrotten Staaten unmöglich das gesamte Außengebiet patroullieren und kontrollieren kann, zieht man die verfügbaren Kräfte in den besser beherrschbaren Distrikten zusammen. Und überlässt jene Gebiete, die ohnehin unrettbar verloren sind, sich selbst.
■ Konzernpolizei (Corpsec). Die Konzernpolizei besteht aus Sicherheitskräften einzelner oder vereint in einer Konzernzone operierender Unternehmen. Oft sind Konzernpolizisten auch Angestellte einer externen Sicherheitsfirma, die von dem oder den Betreiber(n) der Konzernzone für Aufgaben der Sicherheit, Zugangskontrolle und alle möglichen Teilaufgaben der Überwachung angeworben wurde. Aufbau, Vorgehen, Uniformierung und Ausstattung der Konzernpolizei weichen damit natürlich von Zone zu Zone erheblich voneinander ab. Es gibt ebenso Konzernpolizisten in grauen Anzügen und höflichen Umgangsformen wie gedrillte Spezialeinheiten mit vollvercyberten Körpern und ACPA-Backup.
■ Staatspolizei (Cops). Die klassischen Cops der ISA kämpfen seit vielen Jahren einen verlorenen Kampf. Und das wissen sie auch. Die geringe Aussicht auf Besserung hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass Cops hochgradig bestechlich oder bessere Schläger für Gangster und Konzerne waren. Diese Tendenz hat sich in jüngerer Zeit umgekehrt, indem zahlreiche „Bad Cops“ in den Dienst der stark expansiv ausgelegten, prestigeträchtigeren und besser bezahlten Konzernpolizei abgewandert sind. Viele Cops, die heute mit neuem Stolz ihre Marke tragen, tun dies aus einem Gefühl von grimmen Trotz heraus. Und im blinden Idealismus, dass auch jene, die durch die Maschen des Systems rutschen, ein Anrecht auf Sicherheit und Glück besitzen.
■ Law Enforcment Division (LEDiv). Die Agenten des LEDiv sind eine ausgesprochen unangenehme Mischung der übelsten Facetten früherer amerikanischer Geheim- und Polizeidienste. Die LEDiv ist FBI, CIA und NSA in einem. Sie ist Home Defense, Patriotic Act, Schocktruppe des Präsidenten. Ist Stasi und Gestapo. Ausgestattet mit umfassenden Vollmachten der IG-treuen Regierung der ISA ist die LEDiv gemeinsam mit dem COC die einzige Abteilung reststaatlicher Kontrolle, die gegenüber der Konzernpolizei weisungsbefugt ist und ihre Ermittlungen Draußen wie Drinnen durchführen kann. In der öffentlichen Wahrnehmung und beeinflusst durch entsprechende TV-Shows werden LEDiv Agenten als „Men in Black“ mit schwarzen Anzügen und Science-Fiction-Waffen der neuesten Generation betrachtet. Tatsächlich arbeiten die meisten LEDiv Agenten undercover. Ihre Bewaffnung und Ausstattung ist aber in der Tat exzellent, da umfassende Resourcen vom (nicht länger im vollen Umfang benötigten und vom Orbit erwünschten) US-Militär in LEDiv, COC und BuReLoc umgeleitet wurden.
■ Center of Disease Control (CDC). Die Carbonseuche hat eine zuvor nie da gewesene Summe finanzieller Mittel in Gesundheitsbehörden und Seuchenschutzprogramme geschwemmt, die binnen weniger Jahre in das Zentrum zur Krankheitskontrolle vereint wurden. Heute, da die Carbonseuche weitestgehend beherrscht ist, kommt auf das COC die Frage nach der weiteren Daseinsberechtigung zu. Eine Problemstellung, die für das COC nur durch fortwährende öffentliche Panikmache und – natürlich – fortwährende Identifizierung und Internierung „neu entdeckter Erkrankter“ zu beherrschen ist. Und somit ein Unterfangen, welches enge Bande zum BuReLoc hat entstehen lassen.
■ Bureau of Relocation (BuReLoc). Die dritte überfinanzierte Behörde der ISA beschäftigt sich offiziell und äußerst medienwirksam mit der Bekämpfung von Armut, Obdachlosigkeit, Hunger und Verwahrlosung. Und seit mehreren Jahren zunehmend auch der Bekämpfung armutstypischer Seuchen und Krankheiten in enger Kooperation mit dem COC. Dem Wissen der Normalbevölkerung nach bietet das BuReLoc den verarmten, drogen- und alkoholabhängigen und meist kriminalisierten Elementen der Gesellschaft eine neue Chance und Heimat. Wo auch immer. Tatsächlich wird das BuReLoc von ISA-Instanzen ebenso wie Konzernen als Behörde zur Beseitigung Unerwünschter verwendet. Eine Aufgabe, die das BuReLoc zur vollsten Zufriedenheit aller erfüllt. Böswillig von Terroristen verbreitete Gerüchte von Konzentrationslagern und Massengräbern sind längst als Feindpropaganda enthüllt: Gewiss gibt es Sammel- und Notlager, bei denen die erfassten „Zeros“ erst einmal identifiziert und neuen Plätzen zugewiesen werden. Selbst dort aber haben sie es besser als in der Hölle, aus der man sie gerettet hat – und auf sie wartet nach kurzer Säuberung, Impfung und einer eventuellen Braindance Therapie mit Kriminalitäts- und Suchtblockern ein glücklicheres Leben als nützlicher Teil der menschlichen Gesellschaft. Vielleicht auch bald an ihrem Drive-In Schalter oder als Servicekraft in ihrer Firmen-Arkologie.
■ Gun Act von 2033. Die einstmals mächtige Waffenlobby Amerikas hat ihren Einfluss verloren. Waffen gehören in die Hände von Polizei und Sicherheitskräften. Mit dem Gun Act von 2033 sind lediglich Schrotflinten und Jagdgewehre sowie – ab einer Identität der Stufe 2 – eine mit 911-Chip und Guncam ausgestattete Pistole zur Selbstverteidigung statthaft (die Guncam macht bei Auslösen der Waffe ein Bild des Zielgebietes, und der 911-Chip ruft automatisch die zuständige Polizei). Hocheffiziente (95% erfolgreiche) Waffensensoren an vielen neuralgischen Punkten der Konzernzone, Schuss-Detektoren im näheren Umfeld und vor allem ein verschärftes Vorgehen gegen Bewaffnete und – seit 2035 – auch „überpanzerte“ Personen (SP8+) haben die Entmilitarisierung der Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit bereits sehr weit vorangebracht. Anders sieht zuweilen innerhalb von Häusern und Wohnungen aus, wo sich häufig noch „Erinnerungsstücke“ oder „letzte Mittel zur Verteidigung der Familie“ verbergen. Für Cyberpunks bedeutet das verschärfte Waffengesetz eine erhebliche Preissteigerung bei allen Waffen und nicht-leichten (SP8+) Rüstungen (Pistolen ohne Registrierung und 911 z.B. x3, Sturmgewehre bis x6, Rüstungen meist x2, Skinweave als durch die Konzernmedien „dämonisiertes“ Implantat x10!) sowie das höhere Risiko, durch stärkere Bewaffnung auch sofort „passend ausgestattete“ Sicherheitskräfte auf den Plan zu rufen. Und bei diesen geht Eigensicherung grundsätzlich vor.
■ G3N. Die erste Inkarnation des weltweiten Netzes war unser heutiges World Wide Web. Als Ihara und Grubb mit dem nach ihnen benannten Algorithmus einen einheitlichen Grafikexchange für die virtuellen Communities von Second Life über WOW bis EVE und HOME schufen, war die zweite Inkarnation des Netzes geschaffen. Als diese durch weltweite Viren zum Ende des Vierten Konzernkrieges unterging, hoben die IGs mit dem neuen Netz- und Interfacestandard G3N die dritte Inkarnation des Netzes aus der Traufe. Eines Netzes, das nicht länger die Freiheit der Informationen und Nutzer, sondern der Bereitsteller und ihrer Lizenzen im Fokus hatte. Die vollständige Umstellung auf Lizenzprogramme der G3N-Anbieter schuf dabei völlig neue, noch berauschendere Erlebnisse durch immer bessere Anpassung und Ausnutzung der Hard- und Software der OTAKU IG Mitgliedsunternehmen. Das gesamte G3N fundiert noch wesentlich enger als die reale Welt auf zentral organisierten Vorratsdaten, Logs und Serverpools. Keine Bewegung im Netz bleibt unerfasst, kein virtueller Raum unbeobachtet. Netrunner der neuen Generation sind darum bemüht, so selten wie möglich das Netz zu verwenden. Sie sind zu Meistern des Remote-Zugriffs und der Programmierung geworden, die ihre Spur im zunehmenden Rauschen unzähliger Operationen zu maskieren versuchen. Und die gezwungen sind, zum Zugriff auf geheime Daten so wenig Transferpunkte zum Zieldatenspeicher wie möglich zu benutzen, um möglichst wenig aufzufallen.
■ Cyberguerilla. Die neue Weltordnung hat eine Gleichschaltung der Medienlandschaft beispiellosen Ausmaßes mit sich gebracht. Was es den Konzernen und den mit ihnen kooperierenden Regierungen natürlich umso leichter macht, kulturelle Ideen zu promoten – oder davon abweichende Vertreter zu kriminalisieren. Innerhalb der kulturellen Medienprägung nimmt die ohnedies seit Jahren boomende „Chinesische Leitkultur“ einen besonderen Rang ein. Deren Grundüberzeugung des höheren Ranges von Gemeinschaft und geringeren Ranges von Individualität ist das kulturelle Rückgrat der Unterwerfung unter „höhere“ Instanzen, die als größte Leistung menschlichen Kulturschaffens im 21. Jahrhundert und „Sieg des Miteinanders“ gefeiert wird. Die Cyberpunk-Bewegung und andere Randgruppen werden hingegen als zum Untergang verurteilte Relikte „antiquierter Selbstsucht“ und „als Freiheit maskierte Zerstörungslust“ deklassiert. Gewaltakte, die auch nur entfernte Bezüge zur Cyberpunk-Szene aufweisen – wie der Cyberarm eines Straftäters oder die Silverhand-Dateisammlung auf dem Rechner eines jugendlichen Amokläufers – werden als „Beweise“ für die Existenz einer hochaggressiven und mit allen Mitteln zu bekämpfenden „Cyberguerilla“ als moderne Terrorbedrohung inszeniert. Und das Volk ruft mit Nachdruck dazu auf, strengere Überwachungsmittel zu schaffen, um dieser Gefahr endlich Herr zu werden.
■ Gang Nations, Altcults und Yogangs. Nicht jedem steht der Weg offen, sich dem übermächtigen System zu beugen. Der Weg in die Konzernzone führt für Leute im Draußen nur über Lager, Umerziehung, Verhaltenskorrektur („Deprogrammierung“ früherer Fehlleitung durch Cybergurus (Rocker) und „Befreiung“ von antiquierten Gedanken (Selbstbestimmung, Auflehnung, Zweifel, Ängste)). Und über totalen Verkauf an einen gesichtslosen Markt, in dem sich jeder in der Opferrolle des Ohnmächtigen sieht. „Was soll ich schon tun?“ ist das Mantra der Systemhörigen. Da die Cyberguerilla als Terroristische Vereinigung identifiziert und mit absurd überzogenen Mitteln bekämpft wird, haben sich in jüngeren Jahren neue Leitbilder und Ersatzkulturen herausgebildet. Während Gang Nations letztlich „IGs der Straße“ sind, Zusammenschlüsse oft Dutzender Einzelgangs zu Selbstschutz und effizientere Kontrolle der Gang-Gebietes, sind Altcults und Yogangs Fortentwicklungen früherer „Jugendszenen“, die jeden Aspekt „ihrer“ Bewegung als Erweiterung ihrer Individualität zelebrieren. Und oft mit fast religiöser Hingabe verehren. Ideen für Yogangs finden sich in CyberGeneration. Anregungen für Altcults finden sich in Cyberpunk v3. Wer im Draußen lebt, gehört üblicher Weise zu einer Gang, einer YoGang oder einem Altcult. Die Zuordnung zu einer solchen Gruppe ruft zwar die Ablehnung aller mit ihr verfeindeten Gruppen hervor, bietet aber dafür den Schutz der Gemeinschaft – und Zugang zu den Resourcen der oft ihre Nachbarschaft beherrschenden „Ersatzregierungen“.