fast forward 2020>2035
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Das also ist 2035. Fünfzehn Jahre nach 2020, dem Punkt in der Geschichte, den man als Höhepunkt – und Wendepunkt – der Cyberpunk Bewegung betrachten kann. Der Punkt, an dem es abwärts ging. Abwärts mit der Welt. Abwärts mit den Punks. Abwärts mit der alten Edge.

Nicht, dass wir uns missverstehen: Die Welt war auch schon 2020 am Arsch. Und trotz allem damaligen Gejammere hätte trotzdem niemand bestritten, dass es der Welt insgesamt weit besser ging als, sagen wir mal, zu Zeiten des Großen Zusammenbruchs, der Atomschmelze im Nahen Osten oder den Jahren, als sich eine Welt, die dachte, vereinzelte Terroranschlägchen vereinzelter Terroristchen und ein paar Wirbelstürme mehr im Jahr seien ihre größten Probleme der bitteren Wahrheit stellen musste, die man am besten mit dem unsterblichen Songtitel „You ain’t seen nothing yet“ beschreiben könnte.

Von der Mitte der 2010er bis zu den wilden 20ern des 21. Jahrhunderts fand eine Kulturrevolution nie gekannten Ausmaßes statt. Getrieben von einer unbeschreiblichen Innovationsflut im technischen, kybernetischen und kommunikativen Sektor veränderte sich das Leben der Menschen, die Art zu denken, zu wirtschaften und zu empfinden weit schneller als der Mensch selbst. Der Technoshock brach aus. Trotz globalisierter Vorgabe einer gewissen Einheitskultur zerbrach die Menschheit in verschiedene Lager. Reich und arm entkoppelten sich endgültig. Der Mittelstand verschwand oder wurde durch rasch wachsende Konglomerate, riesige Firmennetze, Megakons, assimiliert. Der Generationenvertrag wurde aufgekündigt. Und die Einführung neuester Technologien schneller, als die Hits von letztem Jahr sich durchsetzen konnten, zerspaltete die Menschheit in Technofetischisten, Stino-User und mehr oder weniger extrem ausgeprägte NeoLudditen, die sich aus Romantik oder Geldknappheit bewusst gegen die neuesten Implantate, Tools und Toys wehrten.

Diese gewiss nicht goldene, sondern Blut-, Öl- und CHOOH2-verkrustete Ära war die Geburts- und Glanzzeit der Cyberpunk-Bewegung. Eine Zeit, in der Attitude alles war. Und zwar eine EIGENE Attitude, die sich durch Taten, nicht Labels unterschied. In der die Punks an der vordersten Edge neuester Technologien surften. Die sie gegen die Multis und Megas einsetzten, um gegen alle kongesteuerte Propaganda die Wahrheit über die „schöne neue Welt v2020“ herauszufinden. Und sie zu Ca$h oder Rep zu machen.

Um den Beginn des Vierten Konzernkriegs herum, so könnte man heute ohne Berufung auf irgendeine Art verlässlicher Quellen sagen, hatte sich die Kulturrevolution so weit gebremst, das wieder so etwas Ähnliches wie Normalität entstand. Nicht aus dem Blickwinkel der Anfang-2000er, natürlich, aber eben aus dem Blickwinkel von 2020: Man wusste, wer die Movers und Shakers waren, wer im Spiel der immer moralloser werdenden Weltwirtschaft die Hosen anhatten, wer die Guten und wer die Bösen – das heißt: wer die nur Raffgierigen und wer die absolut Verabscheuungswürdigen waren.

Einige sagen, dass es dort war, da die Cyberpunk Bewegung ihr Herz verlor. Indem sie corporate ging.

All die technischen Gimmicks und Gizmos kosteten ein irres Geld. Die alternden Körper der Punks, die besser werdenden Abwehrstrategien der Cons, die zunehmende Militarisierung der Sicherheitskräfte und Cops, all dies erhöhte den Geldbedarf der Cyberpunk Szene gewaltig – ein Millionenbiz, an dem vor allem eine neue Klasse von Elite-Fixern absolut nicht schlecht verdiente. Kartelle entstanden, die den Schwarzmarkt dominierten. Preise diktierten. Und bald dafür sorgten, dass die Punks sich nach neuen Geldgebern umsahen. Oder direkt gegen Warez und Implants arbeiteten.

Klar war es noch die Edge. Aber nicht mehr die Street. Aus dem Kampf um die Wahrheit war „James Bond trifft den Millionen-Dollar-Mann“ geworden. Von der Szene weitgehend unbemerkt, fand der große Buy-Out statt. Rocker gingen gegen ihre Überzeugung doch bei großen Labels unter Vertrag. Solos wurden „feste Freelancer“ bestimmter Kons. Netrunner gaben Kurse für Sicherheitsprofile – oder wurden gleich Corporate SysOp. Ganze Nomadenkonvois gründeten sich als Baufirma. Und wer keinen festen Sponsor hatte, sprang von miesem Black Op zu Black Op, wurde verheizt oder musste gegen gute Bezahlung seine inneren Überzeugungen ablegen.

Der Vierte Konzernkrieg beschleunigte das. Jeder Krieg ist eine Art Fast-Forward-Taste der Geschichte. Ganze Heerscharen von Punks – viele von diesen inzwischen jenseits der 30 (manche nah der 40) und darum an Sicherung ihrer Zukunft und Bling-Bling mehr interessiert als daran, gegen Windmühlen zu kämpfen – heuerten bei OTEC, CINO, später (vor allem) bei Militech und (einige wenige) bei Arasaka an und kämpften den härtesten und mit Sicherheit unmoralischsten Krieg, der je auf Erden getobt hat.

Vielleicht ist dies das Verstörendste daran: Ausgerechnet diejenigen, die sich die Bewahrung der menschlichen Werte einst voller Idealismus auf die speckigen Fahnen geschrieben hatten, waren es nun – viele Cyberimplantate, viele böse Erinnerungen, viel Abstumpfung gegen das Elend und mehrere Terabyte Konzernpropaganda später – die eines schönen Sommertags inmitten einer Mall für Angestelte aus dem Heck eines Vans kletterten und reihenweise Frauen und Kinder niedermähten. Zur Demoralisierung des Gegners. Dessen Angestellte nun mal sein wichtigste „Asset“ sind.

Mit Sicherheit ist es zu einfach, den Niedergang der Cyberpunk-Bewegung am Konzernkrieg und den Greueltaten einiger alleine festzumachen. Jeder hat da seine Lieblingstheorie. Die Abstumpfung durch Millionen Carbon-Tote weltweit. Die Entfremdung durch nie auf ihre Langzeitwirkung getestete Implantate. Die Erkenntnis, dass am Ende immer die Konzerne gewinnen. Die Schuldgefühle, weil man missbraucht wurde. Die subtile Erosion der Persönlichkeit durch verstecke psychotropische Programme, emotionsverändernde Musik, geheime Nahrungsmittelzusätze. Auch die Frage „was ist der Mensch?“ im Angesicht von AIs, beginnender Klon-Tech, Cyborgs, Ghosthacking und genetisch optimiertem Nachwuchs. Die Auswahl an Möglichkeiten scheint grenzlos. Vielleicht war es eine Verbindung aus allem.

Einigkeit herrscht in dem, was von der Szene übrig blieb, dass der Niedergang der Cyberpunk Kultur ebenso sehr hausgemacht wie von außen verursacht wurde. Zum Korrumpieren gehören immer noch zwei: Der Kon, der das verlockende Angebot macht – möglicherweise mit dem direkten Ziel, die Bewegung zu entzweien – und der Punk, der einschlägt und gegen mieses Kon-Geld einen miesen Kon-Job macht. Und sich selbst zur Arschfickhure der Bonzen. Was hat das mit Revolution zu tun?

Eben. Nichts. It’s just biz.

Betrachtet man sich die heutige Medienlandschaft, so beherrscht der Steinbrockenkrieg von 2033 die Berichte als das zentrale Ereignis, welches das Leben der Menschheit fundamental änderte. Dabei ist auch dieser nur ein Fast Forward für strukturelle und kulturelle Veränderungen gewesen, die längst im vollen Gange waren – wie JEDE welterschütternde Veränderung zumindest im Rückblick schon Jahre zuvor abzusehen war. Sei es 9-11, sei es der Nuklearkrieg in Nahost, sei es jeder der Konzernkriege, oder sei es eben die Ausrufung der Autonomie der Orbit-, Mond- und Marskolonien durch die Highrider, die im Weltall Geborenen, und deren kurzer, aber heftiger Krieg gegen die Erdstaaten, die diese Unabhängigkeit anzuerkennen nicht bereit waren.

Zeit vergeht. Cyberpunks werden alt. Im All Geborene werden erwachsen und haben selbst Kinder, die nie einen Fuß auf die Erde gesetzt haben (und es aufgrund der Schwerkraft auch nicht überleben würden), Helden sterben an ihren Prinzipien oder geben diese auf und leben. Irgendwie. Aus Firmen wurden Netzwerke. Aus Netzwerken wurden Keiretsus bzw. Multinationals. Aus Multis wurden Megakons. Und aktuell werden aus Megakons IGs, Interessengemeinschaften. Die Konzernkriege, vor allem aber die beiderseitige de-facto-Auslöschung von Militech und Arasaka, hat prägenden Einfluss auch auf die anderen großen Unternehmen gehabt. Vor der Erkenntnis, welche Unsummen auf Spionage und Spionageabehr, auf Sicherheits-Wettrüsten und Bezahlung einer Heerschar in höchstem Maße unzuverlässiger Freelancer (Cyberpunks) aufgewendet und völlig unproduktiv vernichtet werden, nutzten die Megakons die historische Chance der Highrider-Revolution, die Erdstaaten zu entmachten (bzw. diese wie im Fall der Incorporated States of America vollständig zu übernehmen), die letzten Kartellgrenzen niederzureißen und sich innerhalb ihres jeweiligen Marktes mit den jeweiligen Hauptwettbewerbern zu Interessengemeinschaften (Interest Groups, IGs) zusammenzuschließen.

Firmenübergreifende Absprache von Preisen, Lieferbedingungen und technischen Formaten und Standards hat es zu allen Zeiten gegeben. Im Orbit, außerhalb des Blicks, der Kontrolle und des Zugriffs durch irgend eine Art gewählter Instanz, haben die Megas diese Methodik professionalisiert und institutionalisiert. Und die Cyberpunk Szene über Nacht trocken gelegt.

Nicht nur sind die Jobs des einen gegen das andere Unternehmen sehr viel seltener geworden (obgleich es diese natürlich weiterhin gibt), die Unternehmen sehen – in diesem Anbietermarkt – auch weniger Grund, überhaupt Externe zu beauftragen. Oder diese ordentlich zu bezahlen. Oder überhaupt. Dies tun sie nur dann, wenn sie sich deren Loyalität absolut sicher sind (in den 20ern haben einfach zu viele Punks die während eines Jobs gewonnenen Infos auch an Dritte weiterverkauft. Dies rächt sich jetzt bitter). Vor die Wahl gestellt, weiterhin als Freelancer unter hohem Risiko (inkl. Verrat durch den Auftraggeber) und unter der Prämisse von injizierten Giftkapseln, Nanosprengstoffampullen oder kodierten LoyalitätsChips bei eher sinkenden Gewinnspannen und ohne Garantie des nächsten Jobs zu arbeiten oder aber die Attitude an den Nagel zu hängen und „den Morgan zu machen“ – also sich fest anheuern zu lassen – entscheiden sich die meisten für Letzteres. Einige wenige versuchen, sich als Firma für Konzernsicherheit zu etablieren. Und teilen das Schicksal von „Edgerunner Inc.“, die wenige Jahre nach ihrem Start von einem größeren Unternehmen der Branche geschluckt und „restrukturiert“ wurden.

Es gibt natürlich keinerlei verlässliche Daten dazu, wie sich die Edge Scene seit 2020 entwickelt hat. Aus dem Bauch gesprochen sind wohl rund drei Viertel corporate gegangen, vom verbliebenden Viertel sind etwa drei Viertel durch Alter und fehlende Updates ihrer Warez „ausgemustert worden“ (also verarmt oder im Ruhestand) und das verbleibende „Viertel eines Viertels“ teilt sich erneut auf in jene, die weitermachen wie bisher und sich irgendwie durchschummeln, und jene, die ihre Attitude zum Terrorismus weiterentwickelt haben und einer bedauernswerten Schicht weltfremder Spinner und Nihilisten zuzurechnen sind, die sich zuweilen reichlich übertrieben als „CyberGuerilla“ bezeichnet.

Was diese Terroristen, Guerilleros und Revoluzzer dabei übersehen: 2035 ist keine Zeit des Umbruchs. Es ist im Gegenteil eine Zeit der zunehmenden Stasis. Der wachsenden Gewöhnung. Auch: der Hoffnungslosigkeit. Eine Zeit, in der die technische Edge nur noch den Konzernen und deren Dienern zur Verfügung steht. In der auf Seiten der Konzernpolizei Vollcyborg-Spezialeinheiten und Agenten mit zielsuchenden Kugeln stehen gegen Punks, die so outlawed und outgunned sind, dass ein Hochrüsten in Waffen und Cyberware angesichts des damit einhergehenden, rasant steigenden Risikos der Aufmerksamkeit (und in Anbetracht der seit 2020 explodierten Kosten für Black Warez) einfach keinen Sinn mehr macht. Die Normalos, Wage Slaves und anderen Dressierten feiern die neue Zeit als eine Zeit des Friedens, der Entkriminalisierung, der Sicherheit. Diejenigen, die es besser wissen (und es trotzdem nicht verdrängen) beweinen, den Kampf um die Zukunft verloren zu haben.

2035 haben die Kons gewonnen. Auf voller Breite.